- Operette und Wiener Walzer
- Operette und Wiener WalzerAm 5. Juli 1855 eröffnete Jacques Offenbach in Paris seine kleine Bühne »Les Bouffes-Parisiens«. Das Programm enthielt mehrere kleine Stücke, dennoch gilt dieses Ereignis als die Geburtsstunde der modernen Operette. Das neue Genre, das somit im Jahr der ersten Pariser Weltausstellung an die Öffentlichkeit trat, knüpfte an unterschiedliche Formen des musikalischen Theaters an. Die englische Ballad-opera, das deutsche Singspiel und die komische Oper, die französische Opéra-comique und das Vaudeville sind nur einige ihrer Vorläufer. Auch Traditionen des Volkstheaters und die Ausbreitung der Tanzmusik waren von Bedeutung. Merkmale entsprechender Bühnenstücke, die zum Teil sogar schon den Namen »Operette« trugen, sind Kürze, Fasslichkeit, Lokalkolorit und Witz, ein hoher Anteil an gesprochenem Dialog sowie eine schlagkräftige, einfach strukturierte Musik, die im Kontrast zur jeweils zeitgenössischen ernsten und großen Oper steht.Spezifische Bedingungen für die Entstehung der Gattung ergaben sich aus den politischen und gesellschaftlichen Konstellationen der Zeit. Das kulturelle Klima der Metropolen veränderte sich im Sinne einer zunehmenden Modernisierung und Internationalisierung der bürgerlichen Lebensformen, wofür die Weltausstellungen (erstmals 1851 in London) geradezu symptomatisch sind. In Frankreich reagierte die Operette insbesondere auf die labilen Strukturen des Zweiten Kaiserreichs. Offenbachs erster Welterfolg, »Orpheus in der Unterwelt« (1858), traf das Zeitgefühl durch die Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen, an Konventionen, Mode und Moral. Im Gewand einer Persiflage der antiken Götterwelt wird die Gesellschaft der Gegenwart und die Macht der öffentlichen Meinung mit scharfem Witz bloßgestellt.Die Musik ist einfallsreich, leicht verständlich und zündend. Im Mittelpunkt stehen Chöre und Lieder mit spritzigen Couplets. Die Tanzeinlagen, vor allem Cancan und Galopp, bestimmen den Rhythmus der vokalen und instrumentalen Nummern. Ausgelassene Ensembles und Massenszenen, besonders an den Aktschlüssen, steigern sich nicht selten zu mitreißender Turbulenz. Über 100 Bühnenwerke hat Offenbach geschrieben, darunter so bekannte und viel gespielte Operetten wie »Die schöne Helena« (1864), »Blaubart« (1866) und »Pariser Leben« (1866). Aber auch andere Komponisten wie Hervé, Albert Grisar und Louis Clapisson haben die Entwicklung der Gattung mitbestimmt. Hervés »La perle d'Alsace«, in der bereits ein Cancan vorkommt, entstand sogar schon 1854, ein Jahr vor Offenbachs Theatergründung. Der Bezug der Texte zu aktuellen Ereignissen erklärt die einschneidenden Bearbeitungen bei späteren Aufführungen, auch und gerade der erfolgreichsten Werke Offenbachs, sodass es heute schwierig, in manchen Fällen sogar unmöglich ist, sich ein zutreffendes Bild der originalen Fassung zu machen. Auch besaß die Operette nicht den Status eines unantastbaren Kunstwerks. Bei Neuaufnahmen wurden stets Nummern gekürzt und umgestellt und die Orchestrierung ohne große Skrupel verändert.Nach Paris war Wien das zweite Zentrum in der Geschichte der Operette. Volksstücke von Ferdinand Raimund und Johann Nepomuk Nestroy und der soziale Aufstieg der Tanzmusik, vor allem des Walzers, haben hier den Boden bereitet. Pariser Schauspieler führten erstmals 1856 Werke Offenbachs in Wien auf. Nach einem persönlichen Aufenthalt in der österreichischen Hauptstadt im Januar 1861 war seine Popularität so groß geworden, dass er sogar einen Opernauftrag für die dortige Hofoper erhielt.Die erste Phase der Wiener Operette setzte 1860 mit dem Einakter »Das Pensionat« von Franz von Suppé und frühen Werken von Karl Millöcker ein. Suppés »Die schöne Galathee« (1865), eine Anspielung auf Offenbachs »Schöne Helena«, war der erste durchschlagende Erfolg. Die zweite Phase ab den 1870er-Jahren wird durch die Operetten von Johann Strauß bestimmt. 1871 entstand dessen »Indigo und die vierzig Räuber«, 1873 »Der Carneval in Rom«, 1874 »Die Fledermaus«, 1883 »Eine Nacht in Venedig« und 1885 »Der Zigeunerbaron«. Aber auch spätere Operetten von Suppé, etwa »Boccaccio« (1879), oder Millöckers »Der Bettelstudent« (1882) waren in dieser Zeit beliebt. Bereits ins 20. Jahrhundert gehören die Operetten Franz von Lehárs, darunter als einer der größten Erfolge der Operettengeschichte »Die lustige Witwe« (1905). Kennzeichnend für die Wiener Operette ist ein gemüthaft sentimentaler, teils auch melancholisch versonnener Ton. Die politischen Umstände im Vielvölkerstaat Österreich, die sich von denen in Frankreich sehr unterschieden, begünstigten eine gesellschaftlich eher affirmative Haltung der Autoren und das Fehlen der für die Pariser Operette typischen kritischen und parodistischen Anspielungen. Tänze wie Quadrillen, Polkas, Märsche und vor allem der Wiener Walzer sind aber auch hier ein Grundelement der musikalischen Gestaltung.Schon 1786 wurde in einer Oper von Martín y Soler der erste Walzer auf einer Wiener Bühne getanzt. Trotz anfänglicher Kritik aus Adelskreisen erfasste er seit dem Wiener Kongress (1814/15) wie kein Tanz zuvor alle Schichten der Gesellschaft. Der Walzer war aus dem deutschen Tanz und dem Ländler hervorgegangen. Zunächst mäßig bewegt, steigert er sich alsbald zu schnellerem Tempo. Seit den 1820er-Jahren gaben Joseph Lanner und Johann Strauß (Vater) den Walzerkompositionen ihre standardisierte Form, bestehend aus einer Introduktion, fünf Walzern und einer Coda. Johann Strauß (Sohn), den man den »Walzerkönig« nannte, übernahm diese Anordnung, ging jedoch in der Rhythmik, Harmonik und Instrumentierung sowie in der Länge der Introduktionen über seine Vorgänger hinaus. Die Wiener Operette erhielt durch den Walzer ihre charakteristische, tänzerisch beschwingte Atmosphäre. Ihre Walzerfolgen erfreuen sich bis heute einer ungebrochenen Beliebtheit.In Berlin als der jüngsten europäischen Operettenmetropole entstand kurz vor der Jahrhundertwende eine dritte Spielart der Operette. Seit Berlin1871 die Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches geworden war, wurden hier Operetten aus Paris und Wien mit Erfolg aufgeführt. Paul Lincke begründete 1897 mit der Aufführung der »Venus auf Erden« eine eigene Berliner Operettentradition, die er unter anderem mit »Im Reiche des Indra« und »Frau Luna« (beide 1899) fortsetzte. Eigenheiten der Berliner Operette sind lokal gebundene Stoffe, die im Gegensatz zum Wiener Vorbild eher unsentimental präsentiert werden und gelegentlich einen derben Schuss Ironie enthalten. Statt des Wiener Walzers dominiert hier der Marsch. Die Musik ist betont einfach und tendiert zu Gassenhauermelodien, die oft zu Schlagern wurden. Durch die Nähe mancher Operetten zur Revue tritt eine erkennbare, kontinuierliche Handlung mitunter in den Hintergrund.Prof. Dr. Peter SchnausFink, Monika: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 1996.
Universal-Lexikon. 2012.